Katja Krüger darüber, wie harmonisierte Normen die Tür für den freien Warenverkehr im EU-Binnenmarkt öffnen.
Der gemeinsame Binnenmarkt mit freiem Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr gilt als eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union. Zum 1. Januar 1993 an den Start gegangen, feiert Europa in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen. Als gemeinsamer Wirtschaftsraum können sich die 27 EU-Mitgliedsstaaten sowie Island, Norwegen und Liechtenstein im internationalen Wettbewerb neben den Vereinigten Staaten und China behaupten. Gleichzeitig ist der Binnenmarkt einer der größten Treiber für Wohlstand, der sich bei allen Bürger*innen spürbar bemerkbar macht: Eine Studie der Bertelsmann Stiftung kam 2019 zu dem Ergebnis, dass der Europäische Binnenmarkt die Einkommen in Deutschland jährlich um 1.046 Euro pro Person steigert. Der entscheidende Hebel für diese positiv Auswirkung ist die Marktöffnung: Produkte können aus einem Mitgliedsstaat heraus zu gleichen Bedingungen auf dem gesamten Europäischen Binnenmarkt in Verkehr gebracht werden. Davon profitieren insbesondere exportorientierte Länder wie Deutschland.
ENTLASTUNG DES GESETZGEBERS DURCH NORMEN
Ein einheitliches Qualitäts- und Sicherheitsniveau über die europäischen Ländergrenzen hinweg wird dabei durch Normen und Standards sichergestellt. Nach dem Regulierungsprinzip des „Neuen Rechtsrahmens“ (New Legislative Framework) beschränkt sich der europäische Gesetzgeber bei rechtlichen Vorschriften für Produkte und Dienstleistungen, die auf dem Binnenmarkt angeboten werden, auf grundlegende Anforderungen – zum Beispiel an Gesundheits- oder Umweltschutz. Zur technischen Konkretisierung dieser Anforderungen wird auf Normen verwiesen, die Industrie und andere Beteiligte dabei unterstützen, die rechtlichen Vorgaben zu erfüllen. Das hat gleich mehrere Vorteile: Der Gesetzgeber wird von Detailregulierung entlastet, das Fachwissen, das tausende Expert*innen in Europa in die Normung einbringen, wird optimal genutzt, und der Rechtsrahmen bleibt schlank und effizient. Wenn sich der Stand der Technik weiterentwickelt, muss lediglich die Norm, nicht aber das zugrundeliegende Gesetz überarbeitet werden
„Ein einheitliches Qualitäts- und Sicherheitsniveau über die europäischen Ländergrenzen hinweg wird durch Normen und Standards sichergestellt.“
Katja Krüger, Leiterin Regierungsbeziehungen bei DIN
EUROPAWEIT EINHEITLICH
3.066 solcher „harmonisierter Europäischer Normen“ sind aktuell in Ausführung von europäischen Gesetzen im Amtsblatt der Europäischen Union gelistet. Jede von ihnen steht für ein europaweit einheitliches technisches Anforderungsniveau, beispielsweise an Maschinen, Medizinprodukte, Spielzeug oder Explosivstoffe. Wird eine europäische Norm angenommen, muss diese von allen Mitgliedern von CEN und CENELEC in das nationale Normenwerk übernommen werden. Gleichzeitig werden nationale Normen zum gleichen Regelungsgegenstand zurückgenommen – die Basis für den freien Warenverkehr in der EU.
DIGITALER BINNENMARKT
Nachdem das Prinzip des Neuen Rechtsrahmens in den vergangenen 30 Jahren hauptsächlich auf analoge Produkte angewendet wurde, will die Europäische Union es jetzt auch auf den digitalen Binnenmarkt übertragen. So sehen die derzeit in Beratung befindlichen Gesetze zu Künstlicher Intelligenz (Artificial Intelligence Act), Daten (Data Act) und IT-Sicherheit (Cyber Resilience Act) alle die Erarbeitung harmonisierter Europäischer Normen zur Ausfüllung technischer Anforderungen vor. Der Normungsauftrag für Künstliche Intelligenz wurde bereits an die europäischen Normungsorganisationen verteilt. Wichtig dabei ist, dass auch im digitalen Binnenmarkt das Grundprinzip der technischen Harmonisierung in Europa erhalten bleibt: Der Gesetzgeber beschränkt sich auf das Festlegen von Schutzzielen und überlässt die technische Konkretisierung denjenigen, die das entsprechende Fachwissen haben: den an der Normung beteiligten Expert*innen.