Warum Normung nicht Regulierung ist

„Regulierung hat wenig mit Normung zu tun“
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4 min
Portrait von Christoph Winterhalter
© Götz Schleser

Zu den technologischen Umbrüchen in unserer Welt kommen immer mehr gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Herausforderungen hinzu: Märkte schotten sich ab, die Regulierungsdichte nimmt weiter zu und Regierungen feilschen untereinander über die Höhe von Markteintrittsbarrieren. Auf der Strecke bleibt der globale Austausch von Ideen, Waren und Dienstleistungen. Wie lässt sich wirtschaftlicher Erfolg – Basis unseres Wohlstandes – künftig sichern? Mit gemeinschaftlich erarbeiteten Normen und Standards – denn die haben sehr wenig mit staatlichem Regulieren zu tun.

Besitzen Sie ein E-Auto oder einen Plug-in-Hybrid? Wenn nicht, dann haben Sie zumindest schon einmal davon gehört: Es ist noch gar nicht so lange her, da war allenthalben von Steckersystem- und Ladekarten-Chaos beim Stromtanken die Rede, vom Kampf und Krampf an viel zu wenigen Ladesäulen. Die Situation hat sich gebessert, in Europa haben wir heute mehr als eine Million öffentlicher Ladepunkte – bei der Mehrzahl kann mit verschiedenen Ladekarten und -Apps Strom gezapft werden. Und bei den Steckersystemen haben wir mittlerweile europaweit auch Klarheit und eine einheitliche Linie. Was hat das mit der in der Überschrift genannten staatlichen Regulierung und was mit Normen und Standards zu tun? Mit dem ersten Teil der staatlichen Regulierung fast gar nichts, aber mit Normen und Standards sehr viel. Denn das Anlaufen einer bedarfsgerechten und nutzungsorientierten Ladeinfrastruktur wäre ohne Normung noch immer im Chaos-Modus.

Mitarbeit steigert Wettbewerbsfähigkeit – auch in Krisenzeiten

Diese Errungenschaften sind nicht Ergebnis staatlicher oder überstaatlicher Lenkungseingriffe – von finanziellen Förderprogrammen bei der Elektromobilität einmal abgesehen; dass es an den Ladesäulen hierzulande und europaweit reibungsloser zugeht, das ist der Normung zu verdanken. Genauer ist es das Verdienst der Wirtschaft und insbesondere von Unternehmen, die sich aktiv mit dem Thema auseinandersetzen. Audi etwa arbeitet als Fahrzeughersteller aktiv am Normungsprozess mit – beispielsweise an der DIN EN ISO 15118, die festlegt, wie E-Autos und Ladesäule kommunizieren. Das ist wichtig, wenn es um kommende Themen wie bidirektionales Laden oder Plug & Charge geht, also das automatisierte Abrechnen von Ladevorgängen ohne Lade-App oder Kreditkarte.

Aber Normen und Standards sind noch mehr: Sie sind nicht nur die Grundlage für verlässliche Kommunikation zwischen Ladesäule und Fahrzeug oder zwischen Sensor und Umwelt, sie sind auch Grundlage für verlässliche Kommunikation zwischen allen Marktteilnehmern – sektorenübergreifend von Herstellern und ihren Lieferanten über den Handel bis hin zum Konsumenten.

„Regulierung ist top-down, verpflichtend und oft innovationshemmend. Normung und Standardisierung sind,- bottom-up, freiwillig und fördern Innovation und Skalierung.“

Eines ist dabei sehr wichtig: staatliche oder überstaatliche Regulierung und freiwillige Normung voneinander abzugrenzen. Regulierung ist „top-down“, verpflichtend und oft innovationshemmend. Normung und Standardisierung hingegen sind „bottom-up“, freiwillig und innovationsfördernd – sie stärken also die Wettbewerbsfähigkeit, während staatliche Eingriffe den Wettbewerb verzerren. Diese Unterscheidung scheint aktuell wichtiger denn je, denn in der sich wandelnden geopolitischen Gemengelage, in der Handelsabkommen aufgelöst, Zollschranken aufgestellt und ethische Leitplanken unter Beschuss sind, erweisen sich Normen und Standards als Fels in der Brandung und als ein wichtiger Pfeiler für nachhaltig fairen Wettbewerb.

Normung ist gelebte Demokratie

Warum? Normen und Standards sind keine Gesetze, sie sind ein Regelwerk, das auf dem Konsens aller beteiligten Akteure aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik beruht. Das Prinzip: Wenn sich alle auf gemeinsame Spielregeln einigen, dann wird auch nach diesen Regeln gespielt. Sie bieten Transparenz für alle Beteiligten und gewährleisten Verlässlichkeit – ohne staatlichen Zwang, bis zur Verbraucherin und zum Verbraucher. Sie helfen beim Markteintritt, erleichtern den Technologietransfer und sorgen dank Messbarkeit und Vergleichbarkeit für faire Wettbewerbsbedingungen. Normen und Standards sind das Ergebnis eines demokratischen Entscheidungsprozesses, zu dem alle relevanten Stakeholder eingeladen sind.

Und dort, wo der Staat Vorgaben macht und den Rahmen setzt, etwa beim Klima- oder beim Konsumentenschutz, dort dient Normung als Brückenbauer. Sie zeigt den Weg auf, wie Unternehmen und die Wirtschaft den Vorgaben unter praktischen Gesichtspunkten gerecht werden können. Anders gesagt: Anstatt komplexe technische Vorschriften zu machen und diese auch noch bürokratisch überwachen zu müssen, überlässt der Staat es der Normung, die teils komplexen Vorschriften zu übersetzen und dabei so gut wie möglich bestehende und bereits etablierte Normen zur Umsetzung zu nutzen oder punktuell anzupassen. Das ist übrigens auch ein erfolgreiches Mittel für mehr Bürokratieabbau: Normen und Standards sind hier Teil der Lösung, nicht des Problems.

Bekenntnis zu Normen und Standards

Es geht bei Normen und Standards aber nicht nur um technische Vorgaben und festgeschriebene Prozesse. Der Weg dahin ist entscheidend. Das konsensbasierte und internationale Ausarbeiten dieser Regeln ist Ausdruck gemeinsamer Werte. Es ist Ausgangspunkt für einen fairen und transparenten Umgang miteinander. Der Normungsbedarf auf nationaler und internationaler Ebene ist nach wie vor riesig.  Alleine DIN bietet aktuell 

  • geschätzten 35.000 Teilnehmenden aus Wirtschaft, öffentlicher Hand und Verbraucherschutz
  • in mehr als 3.000 Normungsgremien und
  • knapp 70 Normenausschüssen die Plattform zum fachlichen Austausch beim Erarbeiten neuer oder Überarbeiten bestehender Normen und Standards.

Und als Vice President Policy bei der ISO (International Organization for Standardization), dem weltweiten Zusammenschluss nationaler Normungsgremien aus mehr als 170 Ländern, erlebe ich, wie mehr als 150.000 Expertinnen und Experten mit internationalen Normen und Standards mehr Vertrauen in der Welt schaffen wollen – umso wichtiger in einer besonders aufgewühlten Welt dieser Tage.

Christoph Winterhalter

ist Vorstandsvorsitzender von DIN und Vice President Policy der internationalen Normungsorganisation ISO.

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